Schwingungen vermeiden nach dem Vorbild von Kieselalgen
DESY und AWI entwickeln gemeinsam ein neuartiges Untergestell für Teilchenbeschleuniger-Magneten.
In einer Kooperation haben Forschende des Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY und des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), ein neuartiges Untergestell für die Magneten von Teilchenbeschleunigeranlagen entwickelt. Der sogenannte Girder – eine Art Tisch – ist nach dem Vorbild mikroskopischer Organismen im Meer als Prototyp gefertigt worden. Die neuen Erkenntnisse sollen für das zukünftige hochauflösende 3D-Röntgenmikroskop PETRA IV genutzt werden. Dieses soll im Laufe der nächsten Jahre durch einen Umbau der Speicherring-Röntgenstrahlungsquelle PETRA III entstehen. Schon PETRA III ist eine der stärksten Anlagen ihrer Art auf der Welt und dient Forschung und Industrie für Untersuchungen etwa in der Materialwissenschaft oder Medikamentenentwicklung.
Neue Lösungswege für PETRA IV
„Die Anforderungen für die nächste Beschleunigergeneration können mit herkömmlichen Gestellen nicht mehr erfüllt werden“, sagt Markus Körfer, Leiter der Gruppe Maschinen- und Experimenteaufbau bei DESY. Vor allem gelte es, die Schwingungen und Vibrationen der Gestelle und deren Aufbauten durch optimierte mechanisch steife Leichtbaukonstruktionen zu minimieren, weil sonst der Elektronenstrahl auf seinem Umlauf im Ringbeschleuniger nicht präzise genug durch die Magnete geführt werden kann. Die Magnete halten den Elektronenstrahl entlang des 2,4 Kilometer langen Ringtunnels auf seiner Bahn. Sie sind auf den jeweils rund drei bis fünf Meter langen Girdern angebracht.
Ziel ist, dass der Strahl von PETRA IV von einem Umlauf zum nächsten nicht mehr als 100 Nanometer abweicht. Dazu müssen die Aufbauten auf 30 bis 100 Mikrometer genau aufgestellt und ausgerichtet werden. Und sie dürfen nicht mit einer zu niedrigen Eigenfrequenz schwingen. „Alles unter 52 Hertz birgt die Gefahr, dass die Schwingung mit äußeren Anregungen in Resonanz tritt“, sagt Maschinenbauexperte Daniel Thoden, Mitarbeiter in Körfers Gruppe bei DESY. Diese äußeren Anregungen kommen vor allem von der Pumpe für die Wasserkühlung der Magnete und von in Anlagennähe vorbeirauschendem Verkehr, insbesondere Lastwagen. Im Prinzip haben sie den gleichen Effekt, wie wenn Eltern ihr Kind auf der Schaukel anstupsen: Wenn sie das im richtigen Rhythmus tun, schaukelt das Kind immer höher. Bei einem Synchrotron will man dieses Aufschaukeln der Schwingung aber gerade vermeiden, um den Elektronenstrahl stabil zu halten. Da in diesem Fall der äußere Effekt gegeben ist, muss also der Rhythmus, die Eigenfrequenz des Systems selbst so gestaltet werden, dass keine Resonanz auftreten kann. Bei der Schaukel würde man dazu vielleicht die Länge der Schaukel verändern – beim Synchrotron verändern die Forscher die Vibrationseigenschaften der Untergestelle.
Herkömmliche Girder wie sie bei bestehenden Teilchenbeschleunigern zum Einsatz kommen, stoßen bei den technischen Ansprüchen von PETRA IV an ihre Grenzen. Für das passende neuartige Design hofften die DESY-Ingenieure auf Eingebungen aus der Bionik, die sich Mechanismen und Strukturen aus der Natur abschaut. In Kooperation mit Simone Andresen, die beim AWI auf bionischen Leichtbau spezialisiert ist, suchten die Forschenden nach einer Lösung.
Strukturgeber Kieselalgen
Gefunden hat Andresen sie in den Strukturprinzipien winzig kleiner aquatischer Planktonorganismen: Diatomeen und Radiolarien – auch „Kieselalgen“ und „Strahlentierchen“ genannt. Deren Außenschalen, mit denen sie sich vor Fressfeinden schützen, die aber gleichzeitig leicht genug sind, damit die Lebewesen in den nahrungsreichen oberen Meeresschichten schweben können, sind extrem robust. Zu verdanken ist das unregelmäßigen Waben- und Gitterstrukturen aus Silikat, die im Laufe der Millionen Jahre währenden Evolution perfektioniert wurden. „Sie zeichnen sich durch abgerundete Löcher, sanfte Übergänge und unregelmäßig angeordnete Streben aus“, sagt Andresen. „Die Streben sitzen nur an Stellen, wo sie für die Stabilität gebraucht werden – dort wo die Kräfte wirken.“ Mithilfe von Computersimulationen hat Andresen dieses Prinzip auf den Bau von Girdern übertragen und einen Prototypen entworfen. Die Partner bei DESY haben damit dann eine spezialisierte Gießerei beauftragt. Nun ist der Prototyp fertig, und in Tests zeigt er tatsächlich eine Eigenfrequenz von über 52 Hertz. Auffallend ist vor allem die bogenförmige Unterseite des Tisches mit ihrer unregelmäßigen Netzstruktur.
„Der Prototyp wird so nicht zum Einsatz kommen“, sagt Markus Körfer. „Aber er zeigt, dass diese Lösung funktioniert und dient als Vorlage und Inspiration, wenn wir demnächst die konkrete Konstruktion der Girder für PETRA IV angehen.“ Zurzeit sei noch unklar, wie die Magnetoptik genau aussehen wird. Dies müsse man abwarten, um die passenden Untergestelle zu bauen. Am Ende spielen natürlich auch die Fertigungskosten eine Rolle. „Daher werden wir wahrscheinlich Girder haben, die eine Symbiose aus der herkömmlichen, kostengünstigen Fertigungstechnik und den neuartigen Ideen mit ihren überlegenen Schwingungseigenschaften sind.“
veröffentlicht
- 26.01.2022
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