Geschichtsschreibung

DESY und das Exzellenzcluster „Understanding Written Artefacts“ gehen gemeinsam neue Wege in der Materialanalyse historischer Schriftartefakte.

Präzise Analysen der Herkunft und des Alters von Schriftartefakten bilden die Grundlage, auf der historische Zusammenhänge rekonstruiert werden können. Auch vor dem Hintergrund eines florierenden Marktes für Raubgut oder Fälschungen kommt diesen Analysen eine gestiegene Bedeutung zu. Deswegen greift die Schriftartefaktforschung vermehrt auf natur- und materialwissenschaftliche Ansätze zurück.

Im Rahmen einer neuen Kooperation zwischen dem Exzellenzcluster „Understanding Written Artefacts“ (UWA) an der Universität Hamburg und dem Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY untersuchen Hamburger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun historische Schriftartefakte an der Röntgenstrahlungsquelle PETRA III. Der große Vorteil dieser Untersuchungen: Die historischen Artefakte können zerstörungsfrei mit der Röntgenstrahlung untersucht werden. Soweit es die Untersuchungsmethode erlaubt, bedarf es keiner speziellen Probenpräparation – die kostbaren und einmaligen Untersuchungsgegenstände bleiben so unversehrt.

Derzeit finden zwei Pilotstudien statt. Die erste beschäftigt sich mit mesopotamischen Keilschrifttafeln. Die Jahrtausende alten Objekte sind eine wesentliche Quelle für unser Verständnis dieser antiken Hochkultur. Doch viele Tafeln, die bisher nicht eindeutig datiert und einem Ursprungsort zugeordnet werden können, sind für die Forschung nur von eingeschränktem Wert. DESY und UWA untersuchen anhand von 36 Objekten aus den Beständen des Museums für Kunst und Gewerbe (MK&G) und der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg (SUB), inwiefern durch eine Analyse der Beschaffenheit des Tons Rückschlüsse auf den jeweiligen Entstehungskontext einer Tafel gezogen werden können. Als methodische Untersuchung wurde für diese Fragestellung auf die Pulverdiffraktionsmethode gesetzt, da diese als Standardmethode zur zerstörungsfreien und grundlegenden Materialcharakterisierung gut geeignet ist. Dabei werden durch den Röntgenstrahl in einem lokalen Bereich alle mineralischen Körner erfasst und diese tragen so zu einem charakteristischen Beugungsmuster für einen bestimmten Teil der Tontafel bei. Das Beugungsmuster selbst besteht dabei aus individuellen Beugungsreflexen, welche charakteristisch für jedes enthaltene Mineral sind und Auskunft über die kristalline Struktur auf atomarer Ebene geben. Mit geeigneter Software lassen sich dann die individuellen mineralischen Bestandteile analysieren und so lässt sich ein Einblick, sowohl in die atomare Struktur der beteiligten Mineralien als auch in deren quantitative Zusammensetzung, in die Tontafel erhalten.

Die zweite Studie dreht sich um 65 sogenannte tsakalis – tibetische Schriftartefakte aus dem 15. bis 17. Jahrhundert, die zur Religion der Bon gehören. Dabei handelt es sich um Karten mit spirituellen Zeichnungen und Texten, die für die Meditation und in Initiationsriten verwendet wurden. Die Karten wurden von einem Meister speziell für dessen Schüler angefertigt. Die Studie soll herausfinden, ob durch die zerstörungsfreien Materialcharakterisierungsmethoden Röntgenkleinwinkelstreuung (Small-Angle X-ray Scattering; SAXS) sowie Röntgenweitwinkelstreuung (Wide-Angle X-ray Scattering; WAXS) an der SAXSMAT Beamline bei DESY quantitative Informationen über die verwendeten Materialien und dessen Verarbeitungsprozesse herauszufinden sind. Für die Messungen der tsakalis wurde ein spezieller Probenhalter entwickelt, um die empfindlichen Manuskripte mit dem Röntgenstrahl zu untersuchen. Hierbei liefern die SAXS-Messungen Informationen über die Papierstruktur auf der Nanometerskala, insbesondere über die Größenverteilung der Cellulosefasern und deren Ausrichtung. Diese Informationen werden Rückschlüsse über den Herstellungsprozess des verwendeten Papiers als Basis für die tsakalis zulassen und im besten Fall die Frage beantworten, ob alle tsakalis zur selben Zeit und am selben Ort hergestellt worden sind. Die WAXS-Messungen, die gleichzeitig aufgenommen wurden, liefern Informationen über die verwendeten Farbpigmente für die Zeichnungen und Texte auf dem Manuskript, ähnlich zu den Pulverdiffraktionsmessungen an den Tontafeln.
Zusätzlich werden verschiedene Papiersorten aus verschiedenen Gegenden und Jahrhunderten mit diesen Methoden untersucht, um langfristig eine Datenbank zu erstellen mit den gemessenen Röntgenstreuprofilen und deren bekannten Informationen (Herstellungszeitraum, Provenienz, Herstellungsmethode, etc.). Durch maschinelles Lernen soll es dann möglich werden, untersuchte Manuskript-Objekte unbekannter Herkunft schnell einer Gegend sowie einem Herstellungszeitraum zuzuordnen.

Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen DESY und dem Exzellenzcluster „Understanding Written Artefacts“ der Universität Hamburg soll sich zukünftig nicht nur auf einzelne Messungen und Projekte beschränken. Erster gemeinsamer Erfolg ist die Entwicklung eines mobilen Computertomographen für die Vermessung mesopotamischer Tontafeln, jetzt schließen sich die Messungen an PETRA III an. Vielmehr geht es darum, gemeinsam die Methoden zur Untersuchung verschiedenster Schriftdokumente so zu verbessern, dass der Erkenntnisgewinn auf Basis der Daten auf dem molekularen Level dazu führt, viele Fragen schneller und besser zu beantworten. Am Beispiel von Papierdokumenten, wie den tsakalis, heißt das herauszufinden, wie und wo diese einst hergestellt wurden.

veröffentlicht

  • 27.04.2023

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